Das große Eszett
Wie viele große Buchstaben hat unser Alphabet?
Wer in Meißen oder Pößneck wohnt, wird es vielleicht wissen: Unser Alphabet ist seit 2008 um einen Großbuchstaben reicher, dem großen Eszett!
Das Eszett ist der einzige Buchstabe des deutschen Alphabetes, dem als Kleinbuchstabe bis dahin kein Großbuchstabe (Versalbuchstabe) gegenüber stand.
Doch wie kam es zu dieser Besonderheit des nur im Deutschen vorkommenden Buchstabens?
Im Deutschen wird seit 100 Jahren der Kleinbuchstabe Eszett in der lateinischen Antiquaschreibweise verwendet. Die Herkunft des Buchstabens Eszett ist dabei in der Zweischriftigkeit unserer Sprache begründet. Während andere Nationen ausschließlich zum Antiquagebrauch wechselten, bildete sich im 16. Jahrhundert in den deutschsprachigen Gebieten die Gewohnheit heraus, lateinische Texte in der lateinischen Antiqua und deutsche Texte in der Fraktur zu setzen.
Entsprechend entwickelten sich die Buchstaben der gesprochenen deutschen Sprache nur in den gebrochenen Schriften (u. a. in der Fraktur). Für die S-Schreibung gab es dabei im Fraktursatz vier Möglichkeiten (langes S, rundes S, Doppel-S, Eszett), in der Antiqua jedoch nur zwei (S und Doppel-S).
Im Deutschen kommt das Eszett niemals am Wortanfang vor. Die Frage nach der Großschreibung des Eszett taucht aber immer in solchen Fällen auf, in denen Wörter ausschließlich in Versalien geschrieben werden sollen. Schnell wird dabei das Dilemma deutlich, daß man die empfohlene übliche Behelfsschreibweise wie zum Beispiel GRÜSSE statt Grüße zwar anwenden kann, dies aber in Fällen wie MASSE statt Maße recht zweifelhaft wird. Vollends tritt die Großschreibungsmisere bei Eigennahmen wie Weiß, Geißler, Pößneck usw. zutage, da diese in der Schreibweise nicht verändert werden dürfen.
Da im 19. Jhd. die Großschreibung einer Zeile im Antiquasatz weitaus gebräuchlicher als im Fraktursatz wurde, nahm der Bedarf nach dem versalen Eszett stetig zu und seit einem Referat der typografischen Gesellschaft Leipzig 1870 existiert das versale Eszett zumindest als gedachte Figur. Generell hielt die typografische Gesellschaft Leipzig das Eszett als Großbuchstaben damals jedoch „nicht unbedingt nothwendig“ und begründete dies mit der Seltenheit des Versalsatzes, der abgesehen davon auch immer „einen gewissen Bildungsgrad“ voraussetze. Damals schloss das Referat mit einem Apell an die Buchdrucker, sich an der Schriftentwicklung zu beteiligen.
Nach der Reichsgründung 1871 gab es Bemühungen, die deutsche Rechtschreibung zu normieren. Während einer ausführlichen Zeitschriftendiskussion 1871 wurden 30 Vorschläge für eine versale Eszett-Form eingesandt, die anschließend in einem Referat der typografischen Gesellschaft Leipzig beurteilt wurden. Bei einer Auseinandersetzung über die schrifthistorische Bewertung des Eszett trat jedoch die Frage der Eszett-Versalie leider völlig in den Hintergrund.
Dabei gibt es auch bis heute keine eindeutige Klärung des Ursprungs des Buchstaben Eszett. Vor allem konkurrieren dabei die beiden Annahmen, dass es sich dabei um eine Ligatur aus Lang-S und Z in gebrochener Schrift handelt oder aber aus Lang-S und Rund-S.
Auf der sog. „Ersten Orthografischen Konferenz“ im Jahre 1876 wurden Vorschläge zur Eszett-Regelung unterbreitet und anschließend zum Teil heftig in der Öffentlichkeit debattiert.
Auf der 2. Orthografischen Konferenz 1901 wurde beschlossen, für das Eszett und die Versalumlaute jeweils einen Buchstaben zu schaffen. Dabei kam man jedoch für das Versal-Eszett nur zu der Entscheidung, daß dafür die Buchstabenkombination SZ angewendet werden soll.
Im Duden von 1925 wurde der weiterhin bestehende Bedarf nach einem großen Eszett so formuliert: „Die Verwendung zweier Buchstaben für einen Laut ist nur ein Notbehelf der aufhören muß, sobald ein geeigneter Druckbuchstabe für das große Eszett geschaffen ist.“
Die Einführung des versalen Eszett fand jedoch immer noch nicht statt, da die mit der Rechtschreibungsnormierung befassten Beamten nicht auf eine vorhandene Versalie zugreifen konnten und die Drucker vergeblich auf die entsprechende Amtsvorschrift warteten.
Auch nach 1945 wurde die Frage nach der Schaffung einer Eszett-Versalie lange verdrängt, oft mit dem Einwand, daß es nicht geben könne, was es nie gab. Nach dieser Sichtweise, dürften jedoch auch die Buchstaben J, U, W, K, Y und Z nicht in Gebrauch sein, da diese ursprünglich nicht im lateinischen Alphabet vorkamen.
Die Titelbilder der DDR-Duden von 1957 und 1960 (15. Auflage) zeigten ein großes Eszett, für die Rechtschreibung galt allerdings weiterhin die SZ-Regel. In der 16. Auflage von 1969 wurde auch noch die Entwicklung eines Versal-SZ in Aussicht gestellt: „Das Schriftzeichen Eszett fehlt leider noch als Großbuchstabe. Es wird jetzt noch ersetzt durch SS oder, falls Missverständnisse möglich sind, durch SZ. Bemühungen es zu schaffen, sind in Gange.“
Gibt es nun ein versales Eszett oder nicht? Die Großschreibung des Eszett erfährt bisher vor allem ein Nischendasein, zum Bsp. bei Grabsteininschriften auf Friedhöfen. Diese mögen typografisch formgestalterisch nicht immer überzeugend sein, aber das Eszett wird dort als Versalie eindeutig praktiziert und gelesen.
Auch die Post verlangt, das Eszett als Versalbuchstaben zu schreiben, dabei kommt es dann zu der falschen GROßSCHREIBWEISE, da ein typografisch korrektes versales Eszett im Zeichensatz fehlt.
Das Eszett-Paradox tritt uns ebenfalls täglich in Ausweisdokumenten entgegen und in den entsprechenden Institutionen ist man sich dessen bewusst. Defacto ist das versale Eszet damit längst in Gebrauch.
Die Rechtschreibautorität wartet aber auch heute noch auf Vorgaben der Schriftgestalter. Diese erwarten wiederum, dass die Rechtschreibautorität danach verlangt. Dabei existieren entsprechende Entwürfe für ein versales Eszett schon seit dem 19. Jhd., seit den 1920er und 1930er Jahren auch von namenhaften Typografen. Naturgemäß kam es dabei zu ganz unterschiedlichen Lösungsansätzen für eine entsprechende Versalie.
In den letzten Jahren ergab sich eine deutliche Bevorzugung der sog. „Dresdner Form“ von 1955. Diese Form ist auf Anhieb leserlich und der Gewöhnungsbedarf ist gering im Vergleich zu anderen Lösungsvorschlägen.
Im Jahr 2004 beantragte der Typograf Andreas Stötzner, Herausgeber der Zeitschrift Signa, beim Unicode-Konsortium die Kodierung des großen Eszett. Der Antrag wurde aus technischen Gründen verworfen – und weil die Existenz dieses Buchstabens nicht bewiesen wäre!
Damit stand man vor dem gleichen Zirkelschluß wie vor 100 Jahren.
Ein neuer Schritt zur Etablierung des großen Eszett wurde 2007 getan: Das zuständige DIN-Komitee stellte einen zweiten Antrag auf die Aufnahme des großen Eszett als „Latin Capital Letter Sharp S“. Darauf wurde am 4. April 2008 das große Eszett im Unicodestandard Version 5.1 veröffentlicht.
Nun liegt es an den Schreibenden, daß das große Eszett publiziert, gelehrt und angewandt wird, um in unserem Alltag seinen festen Platz zu finden.
Quellen: SIGNA Beiträge zur Typographie, Wikipedia